Simone Truong / Cosima Grand

Backwards – Simone Truong / Cosima Grand

«He, kann mir jemand sagen, wieso ihr alle rückwärts geht?», ruft die Frau von SIP Züri uns zu, die vor der Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige an der Kasernenstrasse steht. «Rückwärtslaufen ist das Wesen aller Dinge», antwortet jemand aus der Gruppe schliesslich eine halbe Stunde später an einem anderen Ort. Der Tag bricht an. Der Himmel hellt auf. Die schwarzen Äste der Bäume werden vor diesem Hintergrund immer plastischer. Wir gehen rückwärts durch die Stadt, wir schweigen, wir passen aufeinander auf. Manche sehr fürsorglich, andere verlassen sich auf das Rückengefühl und schätzen den Flow des kaum manipulierten Rückwärtsgehens. Rückwärtsgehen ist ein radikaler Perspektivwechsel: «Wir sehen, was wir hinter uns lassen, die Zukunft zeigt sich nur lateral, und sehr zögerlich», sagt Simone Truong. «Wir geben dem Raum, wo wir bereits waren.» Das im vorwärts gehenden Alltag vor uns Liegende, verkehrt sich, es liegt hinter uns. Manchmal stossen wir an, stolpern wir über unsere unmittelbare Zukunft. «Ich kann nicht darüber nachdenken, was ich am heutigen Tag noch alles zu tun habe, wenn ich rückwärtsgehe. Ich kann nicht vorwärts denken, wenn ich rückwärts gehe», sagt jemand aus der Gruppe. Als wir am Ende – nach vierzig Minuten wieder zurück bei der Kaserne – stehen bleiben, falle ich fast rückwärts um. Den ganzen Körper zieht es nach hinten weiter. Die Muskeln der Unterschenkel drängen zur Weiterbewegung. Ein Taumeln, ein Schwindel. – Das Rückwärtsgehen, wie auch die «längste Nacht», finden schliesslich sein/ihr Ende am Feuer in einem lauten gemeinsamen Schrei.

Text/Foto: Marie-Anne Lerjen

 

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